Vergiftetes System


Die sich immer schneller drehende Radikalisierungsspirale in den USA und Europa zeigt auf, dass das westliche Gesellschaftssystem sich nicht nur in einer Krise befindet. Vielmehr erreicht die Vergiftung durch Angst, Hass und Gewalt toxische Ausmaße. Auf dem Spiel steht alles – und wir Europäer scheinen alles zu verlieren.

Nationalismus und Faschismus haben noch nie in der Geschichte der Menschheit etwas Gutes bewirkt. Immer haben diese Ideologien zu Tod und Zerstörung geführt, insbesondere im Zweiten Weltkrieg, in dem der deutsche Rassenhass neben den Millionen Kriegstoten auch noch rund 6 Millionen Tote jüdischen Glaubens einforderte.

Angesichts dieser klaren Faktenlage verwundert es gerade in diesen Zeiten umso mehr, wieso trotz des überall unbegrenzt zugänglichen Weltwissens die Grundtatsache über todbringende Ideologien keine Rolle spielt im öffentlichen Diskurs. Die Frage lautet schlicht und einfach: Wenn man doch weiß, dass die eigene politische Haltung garantiert in den Untergang in einem Berliner Bunker führen wird – warum zum Teufel wählt man Faschisten und Nationalisten an die Macht?

Auch hier hilft rasch und eindeutig das überall unbegrenzt zugänglichen Weltwissen. Die Anhänger der aktuellen faschistischen Elite von Donald Trump über AfD bis hin zur Lega Nord sind bis zur eigenen Selbstvernichtung faktenresistent. Dazu reicht die Lektüre über Trump-Fans, die als Harley-Davidson-Mitarbeiter massiv vom Handelskrieg betroffen sind, den der US-Präsident angezettelt hat.

“He wouldn’t do it unless it needed to be done, he’s a very smart businessman”
Harley-Davidson-Mitarbeiter über Donals Trumps Handeskrieg

Und wenn Alexander Gauland auf dem AfD-Parteitag sich beim aktuellen Blick auf Deutschland an die letzten Tage der DDR erinnert fühlt, könnte man das als Satire auffassen – wenn, ja wenn es von Gauland nicht ernsthaft formuliert und von rechten Troll-Armeen in den sozialen Medien nicht aufgegriffen und massiv verbreitet worden wäre.

Nationalismus und Faschismus enden in Krieg und Konzentrationslagern. Immer! Sie beginnen aber nicht damit. Niemals! Und das macht diese beiden Ideologien so gefährlich.

Wie aber lassen sich die Anfänge von Tod und Verheerung identifizieren – noch bevor es zu spät ist? Auch hierauf hat das überall unbegrenzt zugängliche Weltwissen die Antwort parat. Es ist die Sprache, die sich auf verräterische Weise verändert und den abscheulichen Taten vorausgeht. So hat Victor Klemperer in seinen wichtigen Büchern über die Verrohung von Sprache und Gesellschaft vor und während der Nazi-Diktatur geschrieben:

„Alles was ich für undeutsch gehalten habe, Brutalität, Ungerechtigkeit, Heuchelei, Massensuggestion bis zur Besoffenheit, alles floriert hier.“

Den Siegeszug der Faschisten in Deutschland und die Anfälligkeit des Bürgertums für völkisches Gedankengut wurde wesentlich vorbereitet von deutschen Schriftstellern wie Julius Langbehn, Paul de Lagarde und Arthur Moeller van den Bruck. In einer über Jahrzehnte andauernden Gehirnwäsche wurde die Gesellschaft derart entmenschlicht, dass ein Grauen wie in Auschwitz überhaupt möglich werden konnte.

Diese Entmenschlichung von Sprache und Gesellschaft erleben wir gerade wieder. Wenn Donald Trump Mexikaner mit ‚Tieren‘ gleichsetzt. Wenn Matteo Salvini Flüchtlinge als ‚Menschenfleich‘ bezeichnet. Wenn Horst Seehofer sich weigert, Menschen von Flüchtlingsschiffen nach Deutschland einreisen zu lassen.

Denn die Weigerung einer Regierung, Menschen in Not mit christlicher Barmherzigkeit zur Seite zu stehen, ist nur dann in die Tat umsetzbar, wenn die gesellschaftliche Verrohung die Hilfesuchenden längst entmenschlicht hat.

Diese beschleunigte Entmenschlichung gerade in der Sprache hat seine Ursache in der Vergiftung der Gesellschaft durch Angst, Hass und Gewalt. Massaker im öffentlichen Raum erreichen in den USA neue Höchstwerte. AfD-Parteigänger und identitäre Internet-Trolle rufen zum Mord an PolitikerInnen auf. Und in Italien sollen Roma und Sinti wieder einmal durchgezählt werden.

Doch woher rührt die Angst und der Hass, mit der systematisch unser Alltag und alltäglich unser Gesellschaftssystem vergiftet wird? Eine allzu offensichtliche Erklärung lässt sich nicht vom Tisch wischen. Denn das Wissen, dass die globale Gesellschaft in einer tiefen ökonomischen, ökologischen und spirituellen Krise steckt, ist offensichtlich. Die Grenzen des Wachstums sind überdehnt, die zerstörerische Wucht des Kapitalismus legt alle schwächen des zerstörerischen Systems brutal offen. Die Politologin Seyla Benhabib stellt dazu fest:

Diese Politik der Angst ist ein Symptom der Krise der Nationalstaaten, die sich vor einem Kontrollverlust fürchten.

Nun aber verrecken die Opfer nicht mehr still weiter südlich jenseits von Meeren und Wüsten. Plötzlich stehen die Leidtragenden des westlichen Wirtschaftssystems vor den Haustüren in den wohlhabenden Metropolen und erinnern die Wohlstands-Menschen daran: „Wir sind nicht die Guten, wir sind die Bösen, die anderen Menschen unfassbares Leid zufügen.“ Dieses Gefühl ist unerträglich. Diese ständige moralische Anklage, wenn von Klimaflüchtlingen und Kriegswaisen die Rede ist, wo Deutschland und Europa den Klimawandel beschleunigen und Waffen in alle Welt verkaufen. Die Scheinwelt, in der alle Konflikte und Risiken im Guten für alle geregelt sind, zerbricht angesichts der Asylsuchenden zwischen Lampedusa und Freising.

An dieser Stelle ist es wichtig, sich nochmals zu vergegenwärtigen, dass die Aussagen zu Menschenrechten und Asyl in Verfassungen, Grundgesetzen und UN-Charta wesentlich direkt unter dem Eindruck des zweiten Weltkrieges getroffen wurden. Dies war zu einem Zeitpunkt, als Flucht und deren Ursachen noch zu den unmittelbare Alltagserfahrung großer Menschengruppen gehörten. Trotz Globalisierung und trotz des überall unbegrenzt zugängliche Weltwissen werden diese Fakten historisiert oder jenseits des Wahrnehmungshorizonts der Gesellschaft verschoben.

Was statt dessen wahrgenommen wird, sind die Angst, selber abzurutschen, und die Wut, nichts gegen sein eigenen Fehlverhalten tun zu können. Unter dem ständigen moralischen Druck schlagen diese Empfindungen dann um in Hass – in Hass auf Menschen, die tagtäglich an eine Mitschuld erinnern. Die Ahnung, die sich dabei mehr und mehr im Gehirn ausbreitet, lautet: ‚Für uns im wohlhabenden Europa gilt: Erlösung ist nicht mehr zu finden.‘ Wo die Hoffnungslosigkeit in den Heimatländern der Flüchtlinge den Impuls zum Aufbruch freisetzt, stellt sich für die Menschen in Europa und Nordamerika die Frage: ‚Wohin sollen wir aufbrechen‘?

Für uns Europäer gibt es keine Fluchtmöglichkeit mehr – weder können wir geographisch einen besseren Lebensort finden noch können wir unserer globalen Verantwortung entfliehen. Damit sind wir in unserer Angst und unserer Wut subjektiv noch hoffnungsloser dem Schicksal ausgeliefert als die Insassen auf den Schlepperbooten im Mittelmeer. Denn wir haben kein Ziel mehr, dass uns am Horizont mit einem besseren Leben erwarten könnte. Uns bleiben damit nichts als Hass und Gewalt, um das letzte zu verteidigen, was uns noch geblieben ist, ein von Festungstoren umschlossenes völkisches Gebilde von Gesellschaft.

Dass wir dabei alles verlieren, was uns menschlich und europäisch macht – das geht unter in einem nationalistischen und faschistischen Rausch. Der Wahrheit können wir dabei in Europa schön lange nicht mehr in die Augen blicken.

 

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